16. Mai 2024, Prof. Dr. Lucia Ruprecht:
Werthers Walzer – Tanz als kulturelle Kodierung von Liebe und Intimität
In dem berühmten Brief vom 16. Juni beschreibt Werther eine Tanzszene. Im Miteinander-Drehen des damals noch skandalumwitterten Walzers spinnt sich das Paar in einen Kokon der Zweisamkeit ein, der den sozialen Raum in der Wahrnehmung der Tanzenden vollständig zurücktreten lässt. Im Walzer mit Lotte erlebt Werther gelingenden Körperkontakt sowie die beglückende Illusion einer Bindung, die das Leiden des modernen Menschen an der Individuation zu transzendieren scheint. Zum Problem wird Werthers Anspruch auf Exklusivität dieser Erfahrung; seine Negierung von deren rituellem Charakter bzw. prinzipieller Wiederholbarkeit.
Lucia Ruprecht entwickelt eine Lektüre, die Aufschlüsse über die ästhetische Kraft des Briefs vom 16. Juni gibt, die Konturen von Werthers “Krankheit zum Tode” schon in den frühen Briefen des Romans erkennt und – gleichsam en passant – eine kurze Geschichte des Gesellschaftstanzes im 18. und 19. Jahrhundert präsentiert.