26. Juni 2025: Prof. Dr. Tilmann Köppe, Fabian Finkendey
"Das Tragische im rechten großen Sinn":
Theodor Storms Schimmelreiter
Donnerstag, 26. Juni 2025
Ort:
Palais Bellevue, Schöne Aussicht 2, 34117 Kassel 0019
Zeit: 19:00 Uhr
Referenten:
Prof. Dr. Tilmann Köppe (Universität Göttingen);
Fabian Finkendey (Universität Göttingen)
Thema: „Das Tragische im rechten großen Sinn“: Theodor Storms Schimmelreiter
Der Eintritt ist frei.
1. Storm und Goethe
Eine der vielen ‚emotional komplexen‘ Liebesbeziehungen im Werk Storms – die zwischen Paul Paulsen und Lisei Tendler in Pole Poppenspäler – entwickelt in einem Zimmer, in dem die Bühne eines Puppentheaters aufgeschlagen ist, wenige Stunden bevor „Doktor Fausts Höllenfahrt“ gegeben werden soll. (Dank an Prof. Jürgen Schulz-Grobert für diesen Hinweis).
Pole Poppenspäler steht in motivgeschichtlicher Verbindung mit Wilhelm Meister sowie mit Dichtung und Wahrheit. Gleich im ersten Buch seiner Autobiographie schildert Goethe den Eindruck, den ein Puppentheater auf ihn machte, das er 1753 von seiner Großmutter zum Geschenk erhielt.
Aber eine motivgeschichtliche Verbindung läuft natürlich auch vom Schimmelreiter selbst zu Goethes Werk – namentlich zum zweiten Faust. An dieser Stelle ist der – oft verspottete – Eckermann zu würdigen Dabei sei zunächst auf einen sehr kundigen, feinfühligen, unbedingt lesenswerten Essay zu Eckermann von Dr. Egon Freitag verwiesen, dessen Kerngedanken dem Folgenden zugrunde liegen. Goethe selbst hat Eckermann wesentliche Anteile daran zugeschrieben, dass er seinen Faust II zum Abschluss brachte. Dies gilt in besonderer Weise für Fausts ‚Landgewinnungsprojekt‘ im fünften Akt. Der Impuls zu diesen Szenen lag in der Sturmflut an der Nordseeküste vom 3. auf den 4. Februar 1825 bzw. in dem Bericht, den Eckermann Goethe darüber abstattete. Denn Goethe selbst war nie an der Nordsee gewesen, hatte Ebbe und Flut nie erlebt.
Bei dem gewaltigen Sturm im Februar 1825 – Goethe verfolgte das Geschehen in den Zeitungen – entstand eine ungeheure Springflut. Deiche und Dämme konnten die Sturmflut nicht aufhalten, ein gewaltiger Schaden wurde angerichtet. Auf einer Fläche von knapp 300 Quadratkilometern wurde Trinkwasser verdorben, Häuser wurden weggeschwemmt, Viehbestände vernichtet. Eckermann reiste vom 17. bis zum 23. Juni 1826 in das Überschwemmungsgebiet. Die Zerstörungen der Sturmflut, das Ausmaß der Katastrophe waren noch sichtbar. Unter dem Eindruck dieses Berichts schrieb Goethe die entsprechenden Abschnitte des Faust II. Aber schon nach ersten Meldungen von der Katastrophe hatte er im Versuch einer Witterungslehre (1825) notiert:
„Es ist offenbar, daß das, was wir Elemente nennen, seinen eigenen wilden wüsten Gang zu nehmen immerhin den Trieb hat. Insofern sich nun der Mensch den Besitz der Erde ergriffen hat und ihn zu erhalten verpflichtet ist, muß er sich zum Widerstand bereiten und wachsam erhalten. […] Die Elemente sind als colossale Gegner zu betrachten, mit denen wir ewig zu kämpfen haben, und sie nur die höchste Kraft des Geistes, durch Muth und List, im einzelnen Fall bewältigen. […] [U]nruhig möchte das Wasser die Erde […] wieder in seinen Abgrund reißen.“
PROF. DR. TILMANN KÖPPE,
studierte von 1997 bis 2004 Germanistik, evangelische Theologie, Philosophie und Ästhetik in Göttingen und Southampton; 2007 Philosophische Doktorprüfung, Universität Göttingen: Literatur und Erkenntnis. Studien zur kognitiven Signifikanz fiktionaler literarischer Werke). Von 2004 bis 2007 war er Lehrbeauftragter am Seminar für Deutsche Philologie der Universität Göttingen und Mitarbeiter der dortigen Arbeitsstelle für Theorie der Literatur.
Von 2009 bis 2016 Mitarbeit in Forschungszentren in Freiburg und Göttingen. Seit 2017 Professur am Seminar für Deutsche Philologie der Universität Göttingen. Veröffentlicht hat er u.a. zur Fiktions- und Erzähltheorie, zur philosophischen Ästhetik.
FABIAN FINKENDEY,
studierte von 2013 bis 2019 Neuere Deutsche Literaturgeschichte und Philosophie an der Georg-August-Universität. Er forscht als Mitarbeiter der Arbeitsstelle für Theorie der Literatur (Universität Göttingen) zur ästhetischen Wertschätzung der Literatur.
II. Glück, Tragik, Tod, Sinn
Unter dem suggestiven Titel Glück, Tragik, Tod, Sinn: Vier literarische Entwürfe, erschienen bei Wallstein 2023, haben Prof. Dr. Tilmann Köppe und Fabian Finkendey ein überaus bemerkenswertes Stück ‚Literaturkritik‘ vorgelegt.
Vier Erzähltexte werden in den Blick genommen: Johann Peter Hebels Kannitverstan (Glück), Storms Der Schimmelreiter (Tragik), Tolstois Der Tod des Iwan Iljitsch (Tod) und Kazuo Ishiguros Was vom Tage übrig blieb (Sinn). In vier gedanklich feinzügigen, kreativen, geistig ‚hellwachen‘ Lektüren wird dabei die Vieldeutigkeit der Texte – oft gegen die Laufrichtung eher unreflektierter Erwartungshaltungen – als ästhetischer Wert und ethischer Gehalt bewusst gemacht.
Denn: Ist es z.B. wirklich plausibel – oder auch ‚menschlich‘ –, als Leser davon auszugehen, dass Tolstois durchaus karrierebewusster Iwan Iljitsch zu Recht (!) eines so qualvollen Todes stirbt, gleichsam als gerechte Strafe für eine zu anpasslerische und aufstiegsorientierte Mentalität? Ist dies eine ‚moralische Lehre‘, die der Text seinen Leserinnen und Lesern mit auf den Weg gibt?
Vorsicht ist geboten: Bei dergleichen selbstgerechten Einstellungen kann man leicht ertappt werden bei der Lektüre dieses Buches, vielmehr: man wird ertappt werden! Köppe und Finkendey „bring[en’s] an den Tag“ – mit einer methodischen Sorgefalt und Besonnenheit, die für den ‚Ertappten‘ bisweilen enervierend sein kann… Kurzum: Glück, Tragik, Tod, Sinn ist nicht zuletzt eine Einführung in das Lesen, verstanden als ein aktiver, erkenntnisstiftender und lustbetonter, ‚ironisch-irenischer‘ Prozess, der hinter das Tönen vordergründiger Moralbekundungen zur Wahrnehmung und Würdigung des in der Gegenwart Lebendigen führt.
‚Ironisch-irenisch‘: Die Wendung ist hier mehr als ein Wortspiel. Eine (freilich subtile) Ironie richtet sich gegen mechanische, schwarz-weiße Deutungen. Friedliebend, friedfertig aber wird mit den oft geplagten Protagonisten umgegangen – die jeweils auf ihre Weise Repräsentanten aller Menschen sein können. Das gilt auch für Theodor Storms Hauke Haien.
III. Theodor Storm: Der Schimmelreiter (1888)
Denn über Hauke, den schlanken, hochgewachsenen Friesen, brechen im Gefolge der – in der Rezeption zudem oft abgeschliffenen – Tragödientheorie des Aristoteles Anschuldigungen und Verurteilungen herein wie eine Sturmflut. Technischer Machbarkeitswahn, Hochmut, ein narzisstisches Anerkennungsbedürfnis – you name it. Immerhin wird ihm, zugleich mit diesen negativen Zuschreibungen, die ‚Würde‘ des tragischen Helden zuteil, an sich selbst zugrunde gegangen zu sein. –
Es geht also um den Begriff der Hamartia, bei Aristoteles das Fehlverhalten des tragischen Helden, das die Katastrophe herbeiführt. Zwar versteht Aristoteles den Begriff nicht im Sinne neuzeitlicher Moral; die Verantwortung des Helden ist gleichwohl gegeben. Sie liegt in ungenügender Reflexion und der Überschätzung der eigenen Möglichkeiten.
„Schnell fertig ist die Jugend mit dem Wort“ … – und die Leserinnen und Leser, jung und alt, mit dem Text. (Der Verfasser schließt sich in diese kritische Selbstreflexion selbstredend ein.) – – Storm, der große Menschenkenner aus Husum, zudem literaturhistorisch und -theoretisch versiert , wusste es besser. Zur Tragödie bzw. zum ‚tragischen Fehler‘ äußerst er sich wie folgt (Zitat bei Köppe und Finkendey):
„Für die Tragik, besonders in der epischen Poesie, eine eigne Schuld der betreffenden Person zu fordern, beruht auf einer zu engen und […] etwas philisterhaften Auffassung des Tragischen; der vergebliche Kampf gegen das, was durch die Schuld oder auch nur die Begrenzung, die Unzulänglichkeit des Ganzen der Menschheit, von der der Einzelne nur ein unablösbarer Theil ist, der betreffenden Person entgegensteht, und der dadurch herbeigeführte Untergang, sei es der Person selbst, oder ihres eigentlichen Lebensinhaltes, das ist nach meiner Ueberzeugung das Tragische im rechten großen Sinn; [….] der Untergang nur wegen eigner Schuld ist schon mehr eine pädagogische, polizeiliche oder criminelle Bestrafung.“ (Storm in einem Brief an Heinrich Schleiden, 9. 11. 1881)
Seien Sie gespannt, wie Prof. Tilmann Köppe und Fabian Finkendey Storms Tragödientheorie in nuce in ihre verschiedenen gedanklichen Schritte ‚zerlegen‘, diese abwägen, durchdenken, um auf dieser Grundlage dann (alte und neue) Fragen an Storms Novelle formulieren, wie z.B.:
- Mit welchen antagonistischen Kräften sieht Hauke Haien sich konfrontiert?
- In welchem Verhältnis stehen kausale (Mit)Verantwortlichkeit und moralischer Verantwortlichkeit?
- Warum geht den Leserinnen und Lesern Haukes Schicksal so nahe?
- Gibt es tragische Handlungsstrukturen und worin bestehen sie?
- Gibt es ein spezifisch ‚tragisches‘ Gefühl und unter welchen Umständen stellt es sich ein?
- Gibt es Dinge, in Bezug auf die ein Mensch gar nicht anders kann, als sie zu wollen? Gibt es eine Form des Wollens, die ‚persönlichkeitskonstitutiv‘ ist? – „Das Wollen […] ist der Gott der neuern Zeit“, schreibt Goethe schon 1815 in Shakespeare und kein Ende…
Lassen Sie sich die Möglichkeit nicht entgehen, einem großen Text, der manchem vielleicht aus der eigenen Schulzeit noch in Erinnerung ist, substantiell wiederzubegegnen. Zur Vorbereitung empfiehlt sich die Lesung von Gert Westphal; gewiss auch ein Mensch, der etwas – in seinem Falle Vorlesen – ‚notwendig wollte‘, freilich mit glücklichem Ausgang.
Sie sind herzlich willkommen!
(Die Radierungen zum Schimmelreiter stammen von Alex Eckener (1870 – 1944)).