15. April 2024:
Prof. Dr. Dirk Oschmann: Menschenbilder - Friedrich Schillers "Don Karlos"

Freitag, 25. April 2025

Ort: Palais Bellevue,
Schöne Aussicht 2, 34117 Kassel
Zeit: 19:00 Uhr

Referent:
Prof. Dr. Dirk Oschmann (Universität Leipzig)

Der Eintritt ist frei.

Schriftsteller und Literaturwissenschaftler Dirk Oschmann posiert für ein Bild in der Räumen des Ullstein Verlags in Berlin am 7. Februar 2023.
Prof. Dr. Dirk Oschmann (© by IMAGO / Emmanuele Contini)
Don Karlos (IV Akt, 9. Auftritt) - Kupferstich von W. Böhm nach Fr. Catel
Don Karlos (IV Akt, 9. Auftritt)
Kupferstich von W. Böhm nach Fr. Catel
Elisabeth von Valois (Frontispiz von H. Schmidt nach Tischbein, 1802)
Elisabeth von Valois (Frontispiz von H. Schmidt nach Tischbein, 1802)
Don Karlos (V. Akt, 3 - Auftritt) - Kupferstich von W. Böhm nach Fr. Catel
Don Karlos (V. Akt, 3 - Auftritt)
Kupferstich von W. Böhm nach Fr. Catel

Illustrationen aus der Ausgabe Bey Georg Joachim Göschen, Leipzig, 1802.
Freundlicherweise fotografiert und der GGK zur Verfügung gestellt von Sibylle-Maria (Pennsylvania/USA).

Da das Staatstheater Kassel, namentlich Regisseurin Julia Hölscher, Schillers Don Karlos auf die Bühne bringt, möchte sich die Goethe-Gesellschaft Kassel diese glückliche Fügung nicht entgehen lassen. Glücklich schätzen wir uns zudem, einen Referenten gewonnen zu haben, der gleichermaßen literaturwissenschaftlich versiert wie menschlich
‘greifbar’ ist: Prof. Dr. Dirk Oschmann von der Universität Leipzig.

Die fortdauernde Faszinationskraft des ‚Don Karlos‘ hat vielfältige Gründe. Drei thematische Aspekte seien  herausgegriffen:

  • Das Stück führ vor, wie die Idee politischer Freiheit, die Kraft zu emanzipatorischem gesellschaftlichen Handeln, in Erfahrungen echter menschlicher Begegnung wurzelt, in Erfahrungen von Anerkennung, Freundschaft und menschlicher Bindung – so prekär auch just dieses Vertrauen im Don Karlos immer wieder auf dem Spiel steht. Demokratiefähigkeit, zeitgenössisch formuliert, kann nicht ‘abstrakt’ vermittelt werden.

  • Ein gedanklich bzw. als ‚inneres Bild‘ erfasstes gesellschaftliches Ideal – ein utopisches Bild von der Zukunft – droht stets in Widerspruch zu sich selbst zu treten, in neue Formen von Unfreiheit umzuschlagen, sobald es den Weg zu seiner Verwirklichung antritt. Posa führt sich bei seiner Wiederbegegnung mit Karlos nicht mehr als dessen Jugendfreund ein, sondern als „Abgeordneter der ganzen Menschheit“ ein. Allzu leicht jedoch sehen ‚gesamtmenschheitlich‘ formulierte Ideale  von den Wünschen und Bedürfnissen des Einzelnen, von der Würde des Individuellen, des Konkreten, des Besonderen ab.

    So umgibt den eigentlichen ‚Helden‘ von Schillers Stück, den Marquis von Posa, in den letzten beiden Akten des Dramas eine Aura des Fragwürdigen, Geheimbündlerischen, Arkanen. Auf seine Erfahrung mit der Posa-Figur im Don Karlos mag Schillers Konzession in Über naive und sentimentalische Dichtung (1795/96) zurückgehen, dass „der wahre Idealism in seinen Wirkungen unsicher und öfter gefährlich ist.“ (NA 20, 503; vgl. Hartmut Reinhardt 2011, S. 413).

  • In der vielfachen Überlagerung der Intrigen (mit verschiedenen Impulsgebern: Posa, Alba, Domingo, Eboli, Großinquisitor) sowie der wohlmeinenden, in ihren Auswirkungen jedoch verhängnisvollen Intervention des Grafen Lerma liefert das Stück nicht nur eine Analyse der Macht in der Welt des Hofes, sondern gestaltet auch fundamentale Kontingenzerfahrungen der Moderne, die menschliche Ordnungs- oder Sinnstiftungsversuche durchkreuzen.


    In den Worten des Schauspielerkönigs aus Shakespeares 
    Hamlet: „Our wills and fates do so contrary run, / That our devices still are overthrown; / Our thoughs are ours, their ends non of our own.“

Auch sprachlich-stilistisch verfügt der Don Karlos über besondere Qualitäten, nicht zuletzt deshalb, weil hier die Themen der Freundschaft und Liebe in ein politisches Drama übergehen und sich insofern subjektive, empfindsame Töne mit scharf erfassten Perspektiven auf eine ‚Analytik der Macht‘ verbinden. Karlos ist als Figur charakterisiert durch Enthusiasmus und Melancholie. Ausgehend von Karlos, jedoch auf andere Figuren übergehend, vermischen sich teils ‚hamletisch-vergrübelte‘, teils schroffe Töne mit traumwandlerisch-sensiblen, gleichsam schwebenden Wahrnehmungen und Fragen nach  dem Wert von Freundschaft, Liebe, Vertrauen und Ehrlichkeit in der gegebenen Wirklichkeit. – Gerade dieser Aspekt fasziniert u.a. den jungen Tonio Kröger in Thomas Manns 1903 erschienener Künstlernovelle.

Dirk Oschmann: Friedrich Schiller - Eine kleine Werkschau (Ullstein 2024)
Dirk Oschmann: Friedrich Schiller - Eine kleine Werkschau (Ullstein 2024)

Prof. Dirk Oschmann (Universität Leipzig) bietet in seinem Buch Friedrich Schiller – Eine kleine Werkschau (Berlin, Ullstein 2024) – eine Neuausgabe des zuerst 2009 im Verlag Böhlau/UTB in der Reihe Profile erschienenen, inzwischen vergriffenen Bändchens – einen literaturtheoretisch versierten, dabei leserfreundlichen und lebensnahen Zugriff auf Schillers Werk.

Zunächst reflektiert Oschmann die sprachkritischen und poetologischen Implikationen von Schillers Stil. Oschmann zeigt, dass in Schillers Sprache, oft eher schablonenhaft unter der Kategorie des ‚Pathetisch-Erhaben‘ subsumiert, im schulischen Kontext nicht selten als ‚verstaubt‘ abgetan, vielmehr ein wesentlicher Aspekt der ‚Modernität‘ seines Denkens und Schreibens liegt – im Sinne einer durch und durch eigensinnigen, dabei hochgradig bewussten Sprachverwendung.

Schillers rhetorische Strategien zielen einerseits auf Affekterregung, dienen andererseits jedoch  der sprachlichen ‚Durcharbeitung‘ von Wahrnehmungen. Die Phänomene werden nicht begrifflich fixiert, sondern scheinen auf in dynamischen, immer wieder wechselnden Konstellationen von Begriffen . Denn die Sprache ist ein Allgemeines – die Phänomene jedoch sind individuell.

Immer neu konstelliert werden Begriffe wie „der Einzelne und die Gattung, [der] Teil und das Ganze, Gefühl und Verstand, Einbildungskraft und Abstraktion, Antike und Moderne, Natur und Kunst, Lebendiges und Mechanisches; Wilder – Barbar – gebildeter Mensch; Stofftrieb – Formtrieb – Spieltrieb; physischer Zustand – moralischer Zustandästhetischer Zustand etc.“ (Oschmann, S. 142) In den wechselnden Konstellationen der Begriffe nähert sich Schiller der Individualität der Phänomene an. „In Sachen Sprache ist Schiller nicht Idealist, sondern „Formalist“ und zugleich Pragmatiker“. (Oschmann, S. 18)

Auf der Grundlage des hier nur knapp skizzierten Sprachbewusstseins Schiller dann die Texte Schillers dann jeweils im Zeichen konkreter thematischer Aspekte gelesen. Dazu zählen u.a.

  • die anthropologische Frage nach dem Sosein des Menschen (Menschenbilder)
  • Fragmentierungs- und Entfremdungserfahrungen der Moderne und das Ideal des ‚ganzen‘ Menschen
  • Das Spiel (bzw. der Spieltrieb) als Zentralkategorie der Ästhetik Schillers
  • Schillers Konzeption der  Geschichtsschreibung

  • Das Bedürfnis nach Individualisierung, nach (innerer) Ganzheit und (äußeren) Gestaltungsmöglichkeiten;
  • Maßlosigkeit und Größenwahn;
  • die Kunst der Intrige;
  • Sein und Scheins (‚negativer‘ Schein der Verstellung vs.  ‚positiver‘ Schein des Kunstwerks, das seine Formgebung betont)
  • die Metapher der ‚krummen Wege‘;
  • (konfligierende) Bilder von Weiblichkeit
  • u.a.m.

Trotz dieses weit gespannten thematischen Rahmens bleibt die Argumentation sehr klar. Jedem Kapitel (bzw. Unterkapitel) ist ein Text Schillers zugeordnet;  zu allen Texten werden kurze Einführungen gegeben. So entsteht kein ‚assoziativer Wirbel‘, dessen Nachvollzug dem Spezialisten vorbehalten bliebe: Oschmanns Schiller-Monographie wendet sich an Fachkollegen und an interessierte Leser gleichermaßen.

Insgesamt legt Oschmann prägnante und zugleich anspielungsreiche Lesarten der Texte Schillers vor, in denen diese nicht zuletzt auch in ihrem lebensweltlichen Bezügen greifbar werden.

Interessant ist es, Oschmanns Schiller-Monographie und seinen ‚polemischen Lang-Essay‘ Der Osten: eine westdeutsche Erfindung (2023) im Zusammenhang miteinander zu lesen (2023). Zwischen beiden Texten werden subtile Bezüge deutlich. Beide Texte werden durch ähnliche Grundfragen strukturiert: der Wunsch nach Individualisierung; Fragen nach Möglichkeiten der Mitgestaltung von Strukturen; Fragen nach einer gerechten Verteilung von Lebenschancen; das Ideal der ‚Ganzheit‘ auf individueller und gesellschaftlicher Ebene u.a.m. Hier schreibt ein Autor, der sich in verschiedenen Diskursfeldern – einmal in  hochauflösender, auf Objektivierung zielender Differenzierung, dann in der polemischen Zuspitzung der Streitschrift -, in einer Weise positioniert, die konsistent ist.

Es ist uns eine große Freude, Prof. Dirk Oschmann in Kassel begrüßen zu dürfen!

Es ist geplant, die Inszenierung Julia Hölschers am Staatstheater Kassel zu besuchen. Näheres dazu in Kürze. Es wäre schön, wenn viele Mitglieder der Goethe-Gesellschaft Kassel mit von der Partie wären.

Palais Bellevue, Kassel
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