17. November 2024:
Stefan Reitz: Eine Winterreise
Nach Gedichten von Wilhelm Müller und Musik von Franz Schubert
Für Sprecher und Saxophon-Trio
Sonntag, 17. November 2024
Ort: Palais Bellevue,
Schöne Aussicht 2,
34117 Kassel
Zeit: 17:00 Uhr
Künstler:
Lutz Stepputtis – Sprecher
Tobias Altmann – Altsaxophon
Andreas Fiebig – Tenorsaxophon
Stefan Reitz – Baritonsaxophon
Der Eintritt ist frei.


Exposé: Auf der Grundlage seiner jahrelangen Beschäftigung mit der Schubert’schen Winterreise hat Stefan Reitz – im Bewusstsein der thematisch-gedanklichen Tiefe der Müller’schen Texte – eine musikalische Neufassung geschaffen, welche die 24 Gedichte in den Versionen von Wilhelm Müller in ihrer ursprünglichen Form in den Mittelpunkt rückt. So ist ein besonderes Werk für Sprecher und Saxophon-Trio entstanden, in dem die Texte professionell rezitiert werden und das Saxophon-Trio diese mit Elementen aus den musikalischen Ideen Schuberts umrahmt, kommentiert oder nachwirken lässt.
Das Saxophon ist ursprünglich eine Erfindung aus der Mitte des 19. Jahrhunderts und aus dem Geist der damaligen Orchestermusik entstanden. Stefan Reitz (Baritonsaxophon) hat eine so große Vorliebe für das klassische Saxophon-Spiel, dass er mit zwei weiteren klassischen Saxophonisten (Andreas Fiebig: Tenorsaxophon; Tobias Altmann: Altsaxophon) ein Trio gegründet hat. Seine Komposition zu Müllers Gedichten nach Schuberts Musik erscheint in diesem Jahr im Druck.
Wilhelm Müller hat die „24 Lieder“, wie er sie nannte, genau vor 200 Jahren, im Jahr 1824, in Dessau erstmals veröffentlicht. Kaum jemand scheint sich dieses Jubiläums bewusst zu sein. Das Palais Bellevue ist ein besonders passender Ort für ein musikalisches Programm, das im 19. Jahrhundert im Umfeld von Kammermusik und literarischem Salon entstand.
Die inhaltliche Konzeption führt die Hörer über zwei besondere Prologe geschickt in die Welt dieser schwarzen Romantik ein. – Freuen Sie sich auf einen sehr besonderen Abend im Palais Bellevue!

Rolf Vollmann:
Wilhelm Müller (1794–1827) und die Romantik
… Genau zwischen die Generation [von] Eichendorff, Uhland, Kerner und Rücken und die Heines gerät Wilhelm Müller, der 1794 geboren wird.
Aufrecht, fromm, harmlos
Müller studiert in Berlin, ist ein gern gesehener Gast in gebildeten Kreisen. Er wird als lebenslustig, sogar leichtlebig geschildert, ist aber, wie ein biederes Tagebuch zeigt, ein ebenso aufrechter wie frommer und harmloser Jüngling. Er stürzt sich mit Begeisterung auf die alten deutschen Dichtungen, versucht sich am Nibelungenlied, besingt selbstverständlich den Befreiungskrieg, den er selber auch ein bisschen mitmacht (er ist drei Jahre jünger als Theodor Körner), sieht aber dann irgendwann ein, dass sein Gemüt, bei aller Lebendigkeit seines Verstandes oder jedenfalls bei all seinen gesellschaftlichen Begabungen, doch auf Einfacheres hinaus will. Er wirft die Hervorbringungen seiner Anfänge fort, und 1821 erscheinen dann die 77 Gedichte aus den hinterlassenen Papieren eines reisenden Waldhornisten: der Titel in seiner gesuchten und gezierten Umständlichkeit verrät zweifellos eine gewisse Distanz, aber allzu groß ist sie nicht, wenigstens nicht so groß, dass man guten Gewissens von Ironie reden möchte. Man kann solchen großen Abstand zu den eigenen Produkten ja eigentlich auch von niemandem erwarten, dessen schöpferische Fähigkeiten, zunächst jedenfalls, über den Standard dieser Produkte im Grund nicht hinausreichen. Denn ohne Frage: Müller ist, zunächst jedenfalls, ein Poet von geringen Graden, Nehmen wir die Anfände einiger seiner besten Gedichte: „Mit der Fiedel auf dem Rücken, mit dem Kappel in der Hand“, „Der Mai ist auf dem Wege, der Mai ist vor der Tür“, „Vor der Türe meiner Lieben häng ich auf den Wanderstab“, „Im Krug zum grünen Kranze, da kehrt‘ ich durstig ein, da saß ein Wandrer drinnen“ etc. Das ist ein unablässiges Wandern, selbst den Mai kann er sich nur unterwegs vorstellen. Daneben wird fast ebenso unablässig Wein getrunken; Müller hat ganze Serien von Wein- und Tafelliedern verfasst. Sicherlich sind die Gedichte zum Teil gefühlvoll; die Gefühle selber aber sind immer eher angenommene als erlebte Gefühle. Als Dichter steht Müller wie in einem luftleeren Raum; es sieht fast so aus, als könne er, wenn er dichtet, gar keine anderen als angenommene Gefühle haben, als stürze er sich dann in diese angenommenen aber hinein, als seien es die eigenen. So ist er denn nie besser, als wenn er wirklich Rollen annimmt.
Rollenspiel
Die Rolle bekommt für ihn einen merkwürdigen Doppelsinn. Einerseits ist sie ein Spiel, etwa dieses Gesellschaftsspiel im Hause Stägemann, wo man sich, einem Vorbilde Goethes folgend, darin ergeht, kleine Liederdramolette um die schöne Müllerin und ihren unglücklichen Anbeter zu schreiben und zu komponieren, und zwar in der romantischen Form, wie sie zur Verfügung stand, jedenfalls dem Gebildeten. Andererseits erfüllt sich in solchen Rollen Müllers poetisches Talent; im Zwang der Rolle wird er gewissermaßen frei, und indem er etwas spielt, ist er ganz er selber. In gewisser Hinsicht sind seine Liebesgedichte um und an die schöne Müllerin, und zwar ganz abgesehen von seiner tatsächlichen Verliebtheit (die, sein Tagebuch zeigt das, selber nur eine Rolle ist), vollkommen echt. Dass er sie lächelnd ein- und ausleitet, spricht in keiner Weise dagegen, sondern in seinem Falle eher dafür.
Der „Griechen–Müller“
Soviel zur Schönen Müllerin. Was nun Müller angeht, ohne Schubert und Heine, so machte er sich seinen Ruhm nach den Wander-, Wein- und Liebesgedichten als sogenannter Griechen-Müller. Auf gelegentlichen Reisen hatte Müller einige jener Leute persönlich kennengelernt, die dann in den zwanziger Jahren zu den Führern der Griechen im Befreiungskampf gegen die Türken zählten. Müller, ein begeisterungsfähiger und politisch durchaus wacher Mensch, nahm sofort, wie viele andere junge Leute in ganz Europa, Partei für die Griechen und brachte in schneller Folge mehrere Hefte Lieder der Griechen auf den Markt. Müller konnte dichten, und er konnte sehr schnell dichten: Er war wohl der erste, und so kam er denn zu seinem Namen.
Dreihundertfünfzig Seiten voller Gedichte
Müller, hierin ganz und gar kein Romantiker, ließ ebenfalls nichts von seiner Muse ungeschoren. Er ist fast nirgendwo gewesen, ohne ein Bündelchen Gedichte mit nach Hause zu bringen. Und auch hier, wie bei Rückert: Den Gedichten tut das keinen Abbruch. Der Dichter hat hier eine andere, eine neue Existenzweise gefunden. Müllers Gedichte von der Insel Rügen oder aus Franzensbad sind hübsch, jedenfalls kann man sich nicht vorstellen und hat auch keinen Beweis dafür, dass dem Dichter bei anderer Dichtweise hübschere Gedichte über Rügen oder über Franzensbad geglückt wären. Müller hat weder Rückens Substanz noch dessen Begabung, von ihm ist insofern, was vergessen ist, zu Recht vergessen. Man begreift aber, warum er, ohne im schlechten Sinne ein Vielschreiber gewesen zu sein, mit seinen knappen dreiunddreißig Jahren dreihundertfünfzig engbedruckte Seiten voller Gedichte hinterlassen konnte.
Die „Winterreise“ lässt einen ratlos
Was man jedoch, auch bei eingehender Lektüre, ja gerade bei eingehender Lektüre dieser dreihundertfünfzig Seiten, nicht begreift, das ist, wie dieser Dichter – und nicht etwa am Ende seines Lebens, da meint man oft ja vieles zu verstehen, sondern mitten in seinem sonstigen Verfertigen von Gedichten – mit einem Male die Winterreise hat schreiben können. Die Gedichte dieses Zyklus sind 1823 entstanden, Heine schrieb zu der Zeit das Lyrische Intermezzo und die Heimkehr, jene berühmtesten und für das Buch der Lieder kennzeichnendsten Gedichte; jene Stücke also, die den halben Tränenregen-Ton Müllers zur vollen Entfaltung bringen. Bei Müller ist von diesem Ton keine Spur mehr da. Keine Spur aber ist auch mehr da von dem gefälligen Tändelton unzähliger anderer Gedichte. Die Winterreise lässt einen ratlos. Dies auch, weil es, anders als bei Rückerts ähnlich unvermuteten Kindertotenliedern, im Leben Müllers, soweit man das überblickt, nicht den geringsten Anlass für den Ton der Winterreise gibt.
Das Wandern – ein reines Getriebensein
Dass man überhaupt nach einem Anlass fragen kann, ist schon sonderbar genug. Es deutet darauf hin, dass diese Gedichte, darin völlig verschieden von allen anderen, tatsächlich ein erlebendes und leidendes Subjekt zu haben scheinen. Nicht zwar im Sinne jener subjektiven Lyrik, die gern als Erlebnislyrik bezeichnet wird, denn auch die Gedichte der Winterreise sind Rollengedichte: darin ist Müller sich treu. Aber die Rolle ist mit so eigentümlichem Leben gefüllt, als wäre sie jemandem auf den Leib geschrieben, und doch kann man sich zugleich niemanden in dieser Rolle vorstellen, am wenigsten Wilhelm Müller. Von den früheren Motiven ist nur eines geblieben, freilich das Hauptmotiv: das Wandern. Aber dieses Wandern hat seinen Charakter ins Gegenteil verkehrt: es ist jetzt ein reines Getriebensein. Und getrieben wird ganz sicher nicht ein junger Bursche; zwar ist von Liebe die Rede, von einem Mädchen, das dann an einen andern vergeben worden ist – aber diese Liebe tritt immer mehr in den Hintergrund, so sehr, dass schließlich überhaupt nicht mehr deutlich wird, welches denn nun eigentlich der Grund für die Ruhelosigkeit des Wanderers, für seine Sehnsucht nach dem Altern und dem Tod ist.
Eine Verzweiflung, an der nichts Poetisches mehr ist
Es macht sich hier eine Verzweiflung breit, an der gar nichts Poetisches mehr ist. Und sie macht sich in einer Sprache breit, die auch mehr und mehr der Poesie, auf jeden Fall wie Müller sie vorher und nachher verstand, den Abschied zu geben scheint. Das Unglaubliche an diesen Gedichten ist, dass Müller auf Bilder und Wendungen kommt, die ihm sonst einfach nicht eingefallen sind, oder die er, wären sie ihm eingefallen, ganz ohne Zweifel, und das ist das beinah noch Unglaublichere, nicht zugelassen hätte. Es sind Bilder und Wendungen, die Müllers ganzer sonstiger Dichtungsart so sehr widersprechen, dass man sie geradezu als unpoetisch bezeichnen muss. Oft kann man von prosaischen Einschüssen reden, oft sogar von Bildern, die fast nicht mehr dem Bereich des Normalen angehören. Müller wagt sich in Gebiete hinein, die von Poesie noch gar nichts wissen – ein nicht nur für ihn, sondern für die ganze Lyrik seiner Zeit tatsächlich einzigartiger Vorgang.
Rolf Vollmann, Tübingen, 1987.
(Der Text zu Wilhelm Müller entstammt dem Programmheft einer Inszenierung des Balletts “Winterreise” von Bernd Schindowski, Staatstheater Wiesbaden, Spielzeit 1987/88. Hier erneut veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung von Rolf Vollmann.)
